Der ewige Traum von Liebe   
 

Da sind Sie ja, Kurt Wolff.“ Der bärtige Mann mit dem wallenden Haar hinter der Portiersluke schob seine Brille auf die Nasenspitze und schaute den hageren Mann vor seinem Fenster darüber hinweg an.

„Was heißt: Hier bin ick ja?“, entrüstete sich der Angesprochene. „Wo denn? Und wie spät iss denn überhaupt? Bin ganz durcheinander irgendwie.“ Kurt Wolff stützte die Hände in die Seiten und schaute sich irritiert um.

„Viertel vor drei. Heute ist Freitag, der 26. August. Wir ... nun, wir stehen sozusagen über den Dingen.“

„Wie jetz, im Himmel?“ Kurt wagte einen kleinen Scherz.

„Genau“, warf der Weißhaarige ein. „Sie leben seit ungefähr 12 Stunden nicht mehr.“

„Nee!“

„Doch.“

„Echt? ... Hm. Das musste ja Mal so kommen! Ick habs geahnt!“

„Ach ja?“

„Mein Herz?“

„Äh, äh.“ Der Weißhaarige schüttelte den Kopf.

„Oder hab ick mir den Magen verdorben? Hab bestimmt was Schlechtes gegessen und immer noch so einen ekligen Geschmack ...“

„Schon lauwarm.“

„Aber ick weiß gar nich mehr so genau ... Bin ick vielleich nur aus dem Bett gefallen und hab mir das Genick gebrochen?“

„Ganz kalt.“

„Ach Mann, jetz sagen Se schon. War ick selber schuld?“

„Ähm, ja, das könnte man so formulieren.“

„Scheiße!“

Kurt Wolff versuchte sich zu erinnern.

Gestern vormittag hatte er auf der Bank unter der großen Fichte im Park des Altenheims am Rosenhügel auf seine Freunde zum Skatspielen gewartet. Sein Zimmernachbar Heinrich Hilgensee hatte noch wie oft mit der Gartenschere die Rosensträucher beschnitten bis Schwester Siglinde ihren dritten Mann Max Bernhardt im Rollstuhl zu ihnen geschoben hatte. Als sie ein frisches Skatblatt auf den kleinen Klapptisch legte, trat Heinrich Hilgensee mit einer dunkelroten Rose heran.

„Schwester Sieglinde, Se denken aber auch an alles!“, sagte Kurt Wolff schnell und schob sich geschickt zwischen seinen Freund und die zierliche Schwester. Er nahm ihre Hand. „Hab ick Ihnen schon mal gesagt, dass Sie meiner verstorbenen Frau so sehr ähneln?“

„Nein. Wirklich?“ Schwester Sieglinde entzog ihm die Hand und stellte die Bremsen an Max Bernhardts Rollstuhl fest.

„Wirklich!“ Kurt lächelte sie verzückt an und versank einen Moment in ihren Anblick.

„Und deshalb würde ick Ihnen gern die Kette hier verehren.“ Er förderte ohne den Blick abzuwenden eine kleine Schachtel aus seiner Tasche. „Bitte, tun Se mir den Gefallen und tragen Se die Kette. Die iss von meiner Helene.“

„Herr Wolff, das ... das ist ja sehr lieb, aber ...“

Sie öffnete vorsichtig die Schachtel und ihr Gesicht überzog sich mit einer zarten Röte.

„Aaah, die ist ja zauberhaft!“ Sie strich mit den Fingern über das Gold. „Aber ... das kann ich nicht annehmen. Bitte, das müssen Sie verstehen. So ein edles Stück. Unmöglich!“

Schwester Sieglinde drückte Kurt Wolff eilig die Schachtel wieder in die Hand und wollte sich verabschieden.

„Schade.“ Beschämt steckte Kurt die Schachtel wieder weg. „Dann werd ick Ihnen die Kette eben in meinem Testament vermachen.“

„Aber Herr Wolff!“, entfuhr es der Schwester. Sie holte tief Luft, besann sich aber, räusperte sich und meinte nüchtern: „Ich hole Herrn Bernhardt in einer Stunde wieder ab, ist das in Ordnung?“

Kurt nickte automatisch. „Aber die Kette kriegen Se, echt, das schwör ick!“

„Kurte, du bist dran mit Mischen“, sagte Heinrich Hilgensee trocken. Die Rose hatte er inzwischen aus der Hand gleiten lassen und stand nun nur mit der Gartenschere in der Hand da.

„Haste jesehn, wie se rot jeworn iss?“, Max Bernhardt kicherte vor sich hin. „Jenau wie in‘ Hollywoodschinken. Ick gloobe, damit die ja nich so abjeneigt iss, ooch wejen den Joldschmuck. Haste denn da noch mehr von? Da biste ja echt ’ne jute Partie Kurte!“

„Meinste?“, fragte Kurt und griff nach den Karten. „Ick muss wohl doch endlich mal mein Testament aufsetzen.“

Später, am gleichen Nachmittag besuchte Kurt wie so oft seinen Freund und Zimmernachbarn Heinrich Hilgensee, um mit ihm im Schatten seines Balkons über das anstehende Fußballspiel im Fernsehen zu plaudern. Heinrich stellte ein weiteres Glas zu den zwei anderen auf den Tisch und lauschte Kurts Überlegungen.

Als Rosi Ebert, die Köchin, plötzlich in der Balkontür stand und sich den dünnen Kittel zuknöpfte, den sie bei der Hitze nur eilig über ihren feuchten Körper geworfen hatte, unterbrach Kurt überrascht seine Rede und starrte sie an. Rosi wrang ungerührt ihren gespülten BH aus und warf ihn zum Trocknen über die Balkonbrüstung. Die Männer beobachteten sie stumm.

„Ihr könnt euch nicht vorstellen wie erfrischend so eine Dusche ist.“ Sie strubbelte sich durchs feuchte Haar und lachte fröhlich. „Der Dampf in der Küche ist bei den Temperaturen unerträglich! Da bin ich echt froh, dass ich hier bei Heinrich so liebevoll aufgenommen werde.“ Sie zwinkerte ihm zu und ließ sich in den Sessel fallen.

Heinrich räusperte sich. „Ähm, ich gieß dann mal Eistee ein.“

„Oh ja, köstlich!“ Rosi sprang auf und langte nach der Kanne. „Ach lass, das mach ich schon.“ Vornübergebeugt goss sie die Gläser voll und die beiden Männer konnten ihre Blicke nicht abwenden bis Rosi aufsah. „Was ist denn?“

„Nichts, nichts. Na, Prost denn.“ Kurt hatte schon sein Glas erhoben und lächelte Rosi verschmitzt an.

 

„Na, dann wissen Sie ja noch was los war“, meinte der Mann in der Pförtnerloge ironisch und kritzelte etwas auf seinen Block.

„Man wird doch mal ein Auge voll nehmen dürfen, oder?“

„Natürlich, aber Sie hätten es dabei belassen sollen.“

„Wieso, ick hab Rosi doch nur gefragt, ob sie mich abends auch mal besuchen kommt. Die hätte auch ablehnen können.“

„Hat sie ja dann auch.“

„Ja, leider. Habs wohl versaut an dem Abend. Keine Ahnung welcher Teufel die dann plötzlich geritten hatte, aber als ick ihr Geld geben wollte ist die ausgeflippt und weg war se!“

Kurt Wolff sah den Weißhaarigen bei dem berittenen Beispiel hinter seiner Glasscheibe eine schmerzliche Grimasse ziehen.

„Schuldiung.“ Er zuckte mit den Achseln. „Haben Sie ‘ne Frau?“

„Nein, ich hatte nie eine.“

„Wie machen Sie das?“

„Was?“

„Na, Se wissen schon ... Kriegen Se nie Lust?“

Der Weißhaarige überlegte einen Moment. „Ihr Menschen müsst nicht alles wissen. Dafür haben wir keine Regeln.“

„Jedenfalls hat mich dit ganz schön fertig gemacht, Pulsschlag mindestens 200. Kein Wunder, in meinem Alter stirbt man wohl schon an sowas.“

„An mehr können Sie sich nicht erinnern?“

Kurt Wolff schüttelte nachdenklich den Kopf. „Doch! Ick bat meine Lieblingsschwester Sieglinde anschließend um eine Schlaftablette. Nein, um zwei. Wir unterhielten uns noch einen Moment und ick sagte ihr, dass ick mein Testament schon geschrieben und ihr darin einiges von Helenes Goldschmuck vermacht hätte. Sie trug ihr Haar genauso wie meine Frau und ich hätte mir gewünscht, dass sie es manchmal wirklich wäre. Als sie dann ging meinte sie, dass ick schon gar nicht mehr so blass sei und die Tabletten vielleicht doch gar nicht nehmen sollte. Sie tippte sich vielsagend auf die linke Brust und mein Puls legte gleich noch mal zu ... Aber natürlich meinte sie nur mein angeschlagenes Herz. Leider.“ Kurt Wolff lächelte versonnen durch die Luke.

„Ja und? Was haben Sie gemacht?“

„Ach, da kam doch noch der Heinrich! Na, der hatte mir grade noch gefehlt. Faselte wat von lauten Stimmen und ewigen Frauenbesuchen und dit ick mir hier nich allet erlauben kann und so. Wird wohl wieder gelauscht haben, der alte Schlawiner! Aber so genau kann man nichts verstehen durch die Wände, hab ick selber schon mal probiert. Wir hatten uns fast gestritten und dann hab ick doch die beiden Schlaftabletten genommen. Aber dann muss ick gleich weg gewesen sein, von da an iss allet neblig bei mir ... Ick bin doch erst 78 Jahre alt, fast noch kerngesund, da stirbt man doch nich ein-fach im Schlaf wegen so ‘nem bisschen Aufregung?“

„Richtig, das hat mit Ihrem Alter auch nichts zu tun.“

„Sondern?“

„Mit gewissen Mitmenschen.“

Kurt Wolff sah den Mann im Häuschen fragend an. 

„Ist Ihnen in der vergangenen Zeit niemand aufgefallen, der irgend-etwas gegen Sie gehabt haben könnte?“

„Gegen mich? Wieso? Meine Rente hat gereicht für meinen Heimplatz, mein einziger Sohn Peter aus erster Ehe hat dafür nie was bezahlen müssen. Hat sich allerdings auch nie gekümmert. Meine neunjährige Enkelin hab ick noch nie gesehn ... Naja, friedliche Koexistenz sozusagen, ein Mal im Jahr ne Geburtstagskarte. Leben ja auch weit weg, was solls.“

„Nein, ich meine jemanden in ihrer Nähe, aus dem Heim.“

„Ick kann mir nich vorstellen, dass mir Schwester Sieglinde die falschen Schlaftabletten gegeben hat.“ Kurt Wolff winkte ungläubig ab.

„Aber Sie haben ihr den Mund schon wässrig gemacht mit der Aussicht nach Ihrem Ableben teuren Schmuck zu erben, oder?“

„Nein! Dit kann ick nich glauben! Dit war doch rein platonisch!“

Der Weißhaarige sah zu, wie sich Kurt Wolff das schüttere Haar raufte, sagte aber nichts.

„Oh nein!“, rief Kurt. „Den Schmuck hätte sie ja gleich haben können, ick hätte ihn ihr doch sofort geschenkt!“

„Vielleicht schämte sie sich aber?“

„Und bringt mich lieber um? Nee! Schwester Sieglinde ist die reinste und edelmütigste Frau die ick nach meiner Helene gekannt hab. Dit hätte die nie gemacht.“ Kurt stand kampfbereit vor der Bude, breitbeinig und entschlossen. „Nich mich. Niemals!“

„Das habe ich auch nicht gesagt. Denken Sie nach! Das ist doch jetzt das einzige was sie noch tun können!“

„Hm. Der Max? Der iss ganz hellhörig geworden bei dem Schmuck.“

„Ein alter kranker Mann, auf Hilfe angewiesen. Wie und wozu?“

„Ick hab den doch öfter beim Skat betrogen und dit wusste der.“

„Lappalien!“

„Rosi?“

„Warum?“

„Die hatte Angst, dass ick wat erzähle, war vielleicht beleidigt?“

„An vergiftetem Essen wären alle gestorben. Weiter!“

„Bleibt nur ...?“

„Ja?“

„Ach nein. Quatsch!“

„Überlegen Sie sich doch das Motiv!“

„Gute Frage. Ick hab keinen Schimmer.“

„Na gut, aber dann werden Sie es wohl nie erfahren.“ Der Weißhaarige schüttelte den Kopf und faltete sorgfältig ein Blatt Papier zusammen. „Hier nehmen Sie. Dort hinten sehen Sie ein kleines Haus, den Bogen geben Sie dort ab. Das ist Ihr Eingangsprofil, danach werden Sie weiter eingeteilt.“

„Wie, Sie schicken mich jetz einfach weg ohne dass ick weiß was mit mir iss?“

„Sie sind tot“, sagte der Alte schmunzelnd. „Das wissen Sie doch!“

Kurt Wolff faltete das Papier auseinander und starrte auf einen einzigen schwarzen Punkt darauf. „Hier steht ja nix drauf, iss ja fast alles weiß!“

„Ja, Ihre Seele. Gehen Sie jetzt, viel Erfolg!“

„Heinrich! Dann kann mich nur der Heinrich abgemurkst haben.“

„Ach, sieh an! Ihr bester Freund? Tsss ...“

„Natürlich, der hat die Rosi aus meinem Zimmer rauskommen sehen oder so. Nur unsern Streit kann der nich gehört haben, sonst wär der nich so eifersüchtig geworden, sondern froh.“

„Aber Herr Wolff, wie soll er das denn angestellt haben?“

„Dit fragen Sie mich? Ick hatte gehofft, dit Sie mich aufklären! Schließlich war ick schon in den süßesten Träumen.“

„Falsch, Sie vergessen den Gärtner.“

„Na klar, der Gärtner ist doch immer der Mörder! Heinrich war immer noch Hobbygärtner und hat sich leidenschaftlich um die Rosen im Park gekümmert. Aber ...“ Kurt Wolff betrachtete fragend seine gespreizten Hände. „... ick bin doch nich Dornröschen!“

„Seien Sie nicht kindisch, Mann!“

„Ja, wie denn, verdammt?“

„Keine Freveleien bitte! Können Sie sich gar nicht an ihre letzten irdischen Augenblicke erinnern? Ich hatte angenommen, dass wir euch Geschöpfen ein intaktes Hirn gegeben haben!“

„Hm. Als Heinrich in mein Zimmer kam hatte er ein Glas Eistee in der Hand, sah jedenfalls so aus und dit trinkt der ja immer. Als ick dann die Schlaftabletten nehmen wollte reichte er mir seinen Eistee zum Nachtrinken. Stimmt, war ein bisschen bitter sein Tee, aber nur ganz leicht. Oder waren et die Tabletten? Jedenfalls hab ick mir nichts dabei gedacht. Als ick dann im Bett lag versank die ganze Welt um mich herum in einem zauberhaften hellblauen Nebel. Alles wurde so leicht und ick träumte von einem strahlend hellblauen Krankenwagen und einer zärtlichen Krankenschwester mit goldblondem Haar. Die zog mir die Schlafanzugjacke aus, streichelte mich überall und dann legte sie sich zärtlich auf mich. Aber plötzlich wurde sie so schwer, dass ick fast keine Luft mehr bekam! Sie liebkoste mich am Hals und umfasste mich. Sie presste ihre blutroten Lippen auf meine, so dass ick nicht mehr atmen konnte! Ick rang nach Luft! Ick wollte ihr von den Bauchkrämpfen erzählen die mich plagten, von meinem unendlichen Durst! Von meiner plötzlichen Angst ... Aber sie hörte nicht! Unbeeindruckt nahm sie eine hellblaue Binde und umwickelte langsam meinen ganzen Körper damit, zog sie immer fester um meinen Bauch, meinen Oberkörper, meine Arme, meinen Hals, meinen Mund ...“

„E 605, ganz typisch!“

„ ... was?“

„E 605 ist ein Pflanzenschutzmittel, das zur Gruppe der Phosphorsäureester gehört. Ein Toxin, dass auch für Menschen äußerst gefährlich, sprich: tödlich sein kann wenn man nachlässig damit umgeht. Oder gezielt.“

„Dieser Schweinehund!“

„Es ist blassgelb und beinahe geschmacksneutral. Extrem geringe Mengen wirken sofort auf das Nervensystem und lähmen die Atmung. Ganz einfach. Um im Notfall Verwechslungen auszuschließen, wird dem Mittel ein blauer Farbstoff zugesetzt der sich im Speichelfluss niederschlägt ...“

„... nutzt aber nur, wenn man rechtzeitig gefunden wird.“

„E 605 ist am Notfallort im Blut nicht nachzuweisen.“

„Booaaahh, mir ist schon wieder so übel ...“

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