Die Prüfung

Nach dem Frühstück verließen sie das Hotel und gingen in die englische Botschaft am Brandenburger Tor. Florines Herz trommelte wild in ihrem Brustkorb und in der rechten Manteltasche pulte sie unaufhörlich mit ihrem Zeigefinger am Nagelbett des Daumens.

Nur ruhig bleiben, dachte sie. War es doch diesmal wirklich das Beste, was ihr je eingefallen war! So wie Jost sagte, wäre es nicht einmal schwierig bis in das Büro des zuständigen Sekretärs vorzudringen, wenn sie nur glaubhaft wirkte! Die englischen Botschaftsangestellten wären manchmal fast dankbar für ein bisschen Abwechslung und Turbulenz. Sie würden sich bestimmt mit Engagement und Hingabe um so ein armes Ding wie Florine kümmern.

In ihrer Erinnerung klang Josts Stimme ruhig und sicher. Mit einer vertrauten Handbewegung strich er sich bei diesen Worten über seinen roten Schnurrbart und Florine musste nun unwillkürlich lächeln.

Mit einem kurzen Seitenblick auf Benjamin an ihrer linken Seite zog sie ihren Arm aus seinem und klickte mit einer geübten Geste den Schnapper ihrer Patchworkledertasche auf. Ohne hinzusehen tastete sie nach dem kleinen Taschenspiegel und kontrollierte im Gehen routiniert ihr Make up. Kurzer Blick von links und rechts. Dann presste sie noch einmal die Lippen zusammen und strich sich mit Schwung ihr halblanges Haar nach hinten. Jetzt konnte es losgehen. 

Benjamin und Florine stürmten, durch die schwere Glastür kaum gebremst, in das Foyer des Botschaftsgebäudes. Florine löste sich im Gehen von Benjamins Arm und rannte hektisch zu einer Tür gegenüber. Sie las kurzsichtig die Aufschrift: Teeküche, und kam ebenso aufgeregt wieder zu ihrem Begleiter zurück, der eher unentschlossen in der Mitte der Halle stehengeblieben war. Fragend sahen sie sich einen Moment lang an. Dann steuerte Florine auf die Dame an der Empfangstheke zu, die sie erst jetzt erblickte.

Gegenüber vom Tresen, direkt neben der Eingangstür, erhob sich ein Kollege von Jost im dunkelblauen Zweireiher von seinem Stuhl. Während er aufmerksam die ungewöhnlichen Besucher musterte, ließ die herabsinkende Tageszeitung einen Blick auf seinen trainierten Oberkörper und ein kleines Funkgerät in der Brusttasche zu.

Bevor die freundliche Empfangsdame Florine auch nur nach ihrem Wunsch fragen konnte, brach es wie ein Schwall aus ihr hervor:

"Meine Tochter wurde entführt!" Hilfesuchend schaute sie die Frau hinter dem Tresen an.

Mit leicht geöffneten Lippen verharrte diese einen Augenblick, kam sich irgendwie überfahren vor.

"Und warum kommen Sie damit zu uns?", fragte sie aber schnell in akzentfreiem Deutsch.

"Weil ich hier ...", Florine fummelte fahrig ein Stück Recyklingpapier aus ihrer Manteltasche, "... einen Erpresserbrief habe, in dem die Freilassung von Sir John Mc Brushdi gefordert wird, der seit zwei Monaten in englischer Untersuchungshaft sitzt." Florines Augenbrauen hoben sich über der Nasenwurzel bis zum Ponny, der ihr in die Stirn gefallen war, und Tränen blitzten dabei in ihren Augenwinkeln.

"Ich habe keine Ahnung wer das ist und was das mit uns zu tun hat. Ich will nur meine kleine Leonie wieder ...!"

Mit einer schlaffen Handbewegung ließ Florine das Stück Papier über den Tresen segeln und sank völlig in sich zusammen.

"Sie ist erst vier Jahre alt und hat heute Morgen einige Minuten allein auf der Straße auf meine Frau gewartet, die sie dann zum Kindergarten bringen wollte." Benjamin hatte inzwischen seinen Mantel halb geöffnet und kam langsam näher. Den linken Arm hielt er merkwürdig angewinkelt, den rechten legte er um Florines Schultern.

"Als sie runter kam um mit der Kleinen loszugehen, lag nur noch ihre Brottasche offen auf dem Bürgersteig ... und darin fanden wir diesen Zettel."

Instinktiv griff die Botschaftsangestellte nach dem Papier. "Haben Sie noch Jemanden gesehen?", warf sie ein, sogleich begreifend, dass diese Frage überflüssig war. Sonst wären die beiden wohl kaum hier. Sie suchte ein Päckchen Papiertaschentücher und reichte es der zierlichen Frau, der jetzt ziemlich hemmungslos die Tränen über die Wangen rollten. Der Mann ging mit gesenktem Kopf wieder einige Schritte rückwärts, er hatte wohl mit sich selbst genug zu tun.

Entschlossen nahm die Diensthabende den Telefonhörer und drückte energisch einige Tasten. Am anderen Ende meldete sich bald eine etwas verschlafene Stimme:

"Yes?"

Mit einer sich fast überschlagenden Stimme fasste die Empfangsdame das eben gehörte kurz zusammen und endete mit dem Hinweis, dass sie die beiden jetzt sofort hochschicken werde.

Hinter einem echt tränendurchtränkten Tempotaschentuch warf Florine Benjamin einen vielsagenden Blick zu.

Mit einer Handbewegung winkte die Angestellte die beiden in Richtung Fahrstuhl und deutete mit Daumen und Zeigefinger eine Zwei an, während sie noch die eigentlich unerhebliche Antwort von Sekretär Lundford am Telefon abwartete.

Der Mann in Dunkelblau hatte die ganze Zeit kein Auge von der Szene gelassen. Als die beiden zum Lift eilten, wollte er sie begleiten, blieb aber nach dem Anflug einer Bewegung achselzuckend stehen. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte faltete er erneut seine Zeitung auseinander.  

Als Florine und Benjamin in der zweiten Etage aus dem Fahrstuhl traten, wurden sie schon auf dem mit blaugrün karriertem Teppich ausgelegten Flur von einer Frau in weißen Pumps erwartet. Sie umschloss mütterlich Florines Hand, nickte Benjamin zu und führte sie zu einem Büro.

Sekretär Lundford bat Florine und Benjamin in sehr englisch klingendem Deutsch Platz zu nehmen und die Sachlage noch einmal zu schildern. Er selbst setzte sich hinter seinen exakt aufgeräumten Schreibtisch und rückte seine Hornbrille zurecht. Florine sank in einen weichen Ledersessel, während Benjamin höflich ablehnte und ans Fenster trat. Er postierte sich absichtlich so um das ganze Geschehen gut zu überblicken. Seine linke Seite wirkte immer noch verkrampft.

Florine legte mit ausgestrecktem Arm das graue Papier auf die hochglanzpolierte Oberfläche des Schreibtisches. Mit emotionsgeladener Stimme brachte sie die ganze unglaubliche Geschichte noch einmal vor. Dabei wischte sie sich ab und zu mit dem schon in Auflösung begriffen en Taschentuch über die Augen. In stockenden Sätzen beantwortete sie dann die Fragen, die der Sekretär ihr noch stellte. Benjamin blieb die ganze Zeit still in der Zimmerecke stehen und verfolgte das Gespräch eher teilnahmslos.

Sekretär Lundford schaute immer wieder mit großen Augen auf den schäbigen Zettel. Wer, zum Teufel, ist Sir John Mc Brushdi? Dieser Name war ihm völlig ungeläufig. Vielleicht hätte er sich in den letzten Wochen nicht so sehr um den Ausbau seines Wochenendhauses kümmern, sondern lieber aufmerksamer die Londoner Presseveröffentlichungen lesen sollen.

"Ach ja, Sir John Mc Brushdi!", meinte er mit vieldeutiger Miene und erhob sich von seinem Stuhl.

"Einen kleinen Augenblick bitte", sagte der Sekretär und ging in sein Vorzimmer um Miss Hamlott nach diesem gewissen Mc Brushdi zu fragen. Er trug ihr auf, sich schnell in der Pressestelle kundig zu machen und dann eine Verbindung zum britischen Außenministerium herzustellen. Erst bei den letzten Worten hielt er die Tür zu seinem Büro schon wieder bewusst offen.

Florine saß auf der vorderen Kante des tiefen Ledersessels und fiel gleich über den hereintretenden Sekretär her.

"Sie ist doch unschuldig, meine kleine Leonie! Wir haben doch mit der Sache überhaupt gar nichts zu tun! Das können Sie doch nicht zulassen! Sie müssen sofort etwas unternehmen! Bitte, ihr darf nichts passieren, bitte! Sie ist mein Ein und Alles ...“ Mit tränenerstickter Stimme flehte sie den Sektretär eindringlich an, der bestürtzt von der wild gestikulierenden Frau zurückwich. „Es ist doch noch nicht zu spät? Sie ist so zart und zerbrechlich und hat heute nur ihren kurzen roten Anorak an. Es soll ja ein sonniger Tag werden. Sie wird doch nicht frieren?" Florine schaute abwechselnd zum Sekretär und zu Benjamin. "Ihr Frühstück hat sie auch auf der Straße liegenlassen müssen, hoffentlich haben wir sie bald wieder ..." Aufschluchzend ließ sich Florine wieder in ihren Sessel fallen und wimmerte wie in Trance vor sich hin.

Sekretär Lundford wandte sich an den gefassteren Benjamin. "Isch rufe unverzüglisch im britischen Außenministerium an und erläutere Ihre brenzlische Situation. Außerdem, isch werde natürlisch sofort Konsul Wrightmann informieren. Isch bin sischer, wir werden in einigen Minuten Herr der Lage sein. Wir finden garantiert eine Lösung."

In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

"Können Sie sisch einen Moment um Ihre Frau kümmern?" Sekretär Lundford lächelte verbindlich und hob den Hörer ab.

Wie angestachelt sprang Florine plötzlich aus ihrem Sessel und fing mit lautem Gejammere an, sich an dem Arm des Sekretärs festzukrallen und ihm eine Szene zu machen. Sie richtete ihre tränengefüllten Augen angstvoll auf sein Gesicht und schrie ihre ganze Verzweiflung immer wieder in den Raum, unfähig, inzwischen auch nur noch einen klaren Gedanken zu fassen. Minutenlang klagte sie lautstark die ganze Welt an, sich gegen ihr kleines Glück verschworen zu haben, sie ihres Sonnenscheines zu berauben und so unweigerlich umzubringen.  So beherrscht wie sie am Anfang noch war, so selbstvergessen war sie inzwischen an der extremen Situation zerbrochen.

Der Sekretär hielt wie erstarrt den Telefonhörer in der Hand. Selbst am anderen Ende war das anfängliche 'Hello' schon längst einer beklemmenden Stille gewichen.

Erschüttert stand auch Miss Hamlott in der Tür und der Tee drohte ihr vom Tablett zu rutschen.

Benjamin war beeindruckt. Offensichtlich hatte er die ganze Szene so nicht erwartet.

"Florine!"

Sein Ausruf beendete die Tragödie die beinahe zu eskalieren begann. "Wir wollen es doch nicht übertreiben!"

Schlagartig richtete sich Florine auf und strich sich die schwarze Hose am Knie ab.

"Okay. Hast du alles im Kasten?", fragte sie nüchtern.

Benjamin nickte, aber ein Lächeln wollte ihm nicht so recht gelingen. Langsam knöpfte er seinen Mantel wieder zu.

Wie ausgewechselt ging Florine zum Schreibtisch des Sekretärs,  nahm den Papierfetzen und zerriss ihn genüsslich.

Sekretär Lundford stand wie vom Blitz getroffen.

"Was ...?", entfuhr es ihm.

Florine ging sanft auf ihn zu und ergriff seine Hand.

“Lieber Herr Lundford, wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen." Sie versuchte das Wimperntuscheaquarell auf ihren Wangen wegzuwischen. "Wissen Sie, ich bin schon zwei Mal bei der Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule durchgefallen. Ich konnte bestimmte Texte einfach nie dramatisch genug vortragen. Mir fehlt die Bühnenerfahrung und ich konnte mich nie konzentrieren, musste immer kichern beim Vorsprechen. Deshalb brauchte ich eine authentische Kulisse. Jetzt haben wir endlich eine brillante Aufnahme mit der ich mich bewerben und dann die Vorsprechprüfung schaffen kann. Vielen Dank." Sie warf auch Benjamin einen dankbaren Blick zu.

"Seit meiner Kindheit träume ich davon eines Tages eine berühmte Schauspielerin zu werden und schon oft habe ich heimlich in meinem kleinen Zimmer bekannte Frauenrollen nachgespielt, die Scarlett gegeben oder Elisabeth die II. ..."

"Hello, hello?", klang es aus dem Telefonhörer, den der total verdutzte Sekretär immer noch in der Hand hielt.

Dann rutschte endlich das Teegeschirr mit lautem Getöse von Miss Hamlotts Tablett auf den dunkelroten Teppich.

 

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